Die ersten 12 Jahre meines Lebens wohnte ich nicht mit meinen Großeltern in der gleichen Stadt. Meist lebten wir nicht einmal im gleichen Land oder auf dem selben Kontinent oder auf der selben Erdhalbkugel. Daher waren meine Besuche immer mit Schulferien verbunden. Und nicht mit irgendwelchen Ferien, sondern mit SOMMERFERIEN! Ich hatte nämlich fast immer nur Sommerferien. Wenn es Sommer auf der nördlichen Halbkugel war, besuchten wir meine Großeltern in Deutschland. Und wenn es schön warm und sonnig auf der südlichen Halbkugel war, gingen wir zu meiner Oma nach Peru. Praktisch, ne?
Zu den Ferien in Peru gab es aber noch ein Sahnehäubchen...mit Schokosplittern und Kirschen: es war nicht nur Sommer, sondern in diese Zeit fielen auch noch mein Geburtstag, Weihnachten und Silvester! Das bedeutete, dass ich mindestens 2 mal bis nach 12 Uhr aufbleiben durfte und ich außerdem mit Geschenken überschüttet wurde. Es war einfach eine tolle Zeit, die ich hauptsächlich mit drei Aktivitäten verbrachte: Mit meinen Cousinen und Cousins schwimmen zu gehen, mit den Nachbarskindern auf der Straße zu spielen und mit meiner abuelita (Omi auf Spanisch) Julia und allen anderen, die zufällig zu Hause waren, Canasta zu spielen. Ja, ihr habt richtig gelesen: Canasta spielen...Für die unter euch, denen das nichts sagt, Canasta ist ein Kartenspiel. Ich würde nicht sagen das es unbedingt ein kinderfreundliches Kartenspiel ist, denn es hat viele Regeln und ist etwas kompliziert. Ihr fragt euch vielleicht, wie meine abuelita Julia mich dazu gebracht hat, mit ihr zu spielen, anstatt weiter mit den anderen Kindern rumzutoben? Sie hatte eine Geheimwaffe: Ihre Spielkarten!
Es waren die schönsten Spielkarten, die ich je gesehen hatte. Zumindest empfand ich es so. Auf der Rückseite jeder Karte war ein wunderschönes Blumenbild. Die Ränder glänzten silbern, sodass man, wenn sie aufeinander lagen, von der Seite einen silbernen Kartenstapel sah. Das Etui zum Aufbewahren der Karten hatte goldene Highlights und war mit einem samtigen Stoff umhüllt, der weich wie das Fell eines Welpen war. Ich liebte diese Spielkarten, durfte sie aber nur in der Hand haben, wenn ich mit meiner Oma Canasta spielte. Also spielte ich Canasta und irgendwann liebte ich nicht nur die Spielkarten, sondern die Spielnachmittage mit meiner Omi.
Ich wurde älter und vieles veränderte sich. Wir zogen nach Peru, ich hatte neue Hobbys und lernte neue Freunde kennen. Aber eines blieb immer gleich: die wundervollen Canasta-Nachmittage mit meiner Omi, die immer um jeden Preis zu gewinnen versuchte.
Vor ein paar Jahre starb meine abuelita Julia. Nach der Beerdigung ging ich mit meiner Mutter und meinen Tanten zu ihrem Haus, um zu überlegen, was wir mit ihren Sachen machen sollten. Meine Mutter fragte mich, ob ich etwas behalten wollte. Ich wusste, dass ich nichts Materielles mitnehmen wollte, ich wollte nur unsere Canasta-Nachmittage zurückhaben. Also antwortete ich: "Ich will die Canasta Spielkarten meiner abuelita Julia haben."
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